Kind mit einem Arm geboren – Haftung des Gynäkologen
Fehlen der oberen Extremität übersehen
Der beklagte Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe betreibt eine Privatordination, in der die Erstklägerin behandelt wurde. Zudem ist er stellvertretender Leiter in der Risikoambulanz eines Klinikums. Beim durchgeführten Organscreening attestierte der Facharzt einen unauffälligen Befund, obwohl auf den dokumentierten Bildern immer nur eine einzige obere Extremität zu sehen war. Auch bei der einen Monat später durchgeführten Doppleruntersuchung sowie beim 3D-Schall teilte er mit, beide Arme und Füße des Fötus gesehen zu haben, obwohl die Untersuchungsergebnisse tatsächlich etwas anderes zeigten. In Österreich gelten verbindliche Standards für die Qualität des Ultraschalls in der Pränataldiagnostik. Durch Ultraschalluntersuchungen, auch bekannt als Erst-Trimester-Screening, NT-Messung und Organschall/Organscreening, sollen fetale Fehlbildungen erkannt werden. Die Beurteilung der fetalen Extremitäten und ihre Fotodokumentation sind fixer Bestandteil des Erst-Trimester Ultraschall- als auch des Organscreenings. Der Beklagte verwendet in seiner Ordination ein hochwertiges Ultraschallgerät, das es ermöglicht, das ganze Kind mit 3D am Bildschirm dazustellen.
Amelie seltene Fehlbildung
Erst nach der Geburt stellte sich heraus, dass statt der linken oberen Extremität nur eine rudimentäre Armknospe vorhanden ist, Brust- und Schulterbereich unzureichend ausgebildet sind, das Schlüsselbein verkürzt ist und im Schulterbereich ebenfalls eine Hypoplasie besteht mit der Folge einer reduzierten Beweglichkeit.
Eltern begehren Schadenersatz
Sowohl die Mutter als auch der Vater begehrten Schadenersatz und die Feststellung der Haftung für alle künftigen Schäden aufgrund des Untersuchungsfehlers. In Kenntnis der Missbildung des Kindes wäre eine Abtreibung vorgenommen worden, sodass der gesamte Unterhalt des Kindes seit seiner Geburt gefordert wurde.
Das Erstgericht sprach den Klägern ca. 76.000,- Euro zu und die Feststellung der Haftung für alle Vermögensschäden und –nachteile sowie für den künftigen Unterhalt des Kindes, weil die Pränataldiagnostik nicht lege artis durchgeführt wurde. Der Beklagte habe einen möglichen Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig und schuldhaft verhindert. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es ließ die ordentliche Revision zu wegen des Fehlens einer höchstgerichtlichen Rechtsprechung zur Frage des ersatzfähigen Schadens, wenn aufgrund eines Diagnose- und Aufklärungsfehlers des behandelnden Arztes ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Fristenlösung unterbleibe und es zu einer bei richtiger Aufklärung nicht gewollten Geburt eines schwer behinderten Kindes komme.
Der OGH (3 Ob 9/23d) erachtete die Revision für zulässig, allerdings für nicht berechtigt.
Wrongful birth und wrongful conception
In der österreichischen Rechtsprechung wurden die bisherigen Fälle in „wrongful birth“ und „wrongful conception“ unterteilt.
Der Judikatur zufolge war die Geburt eines gesunden – wenn auch nicht gewollten – Kindes („wrongful conception“) kein Schaden im Rechtsinne. Rechtsprechungsbeispiele dazu, in denen die Arzthaftung vereint wurde, sind:
- 6 Ob 101/06f: Nach dem dritten Kind wurde eine Vasektomie durchgeführt und dennoch ein viertes – gesundes – Kind geboren.
- 2 Ob 172/06t: Geburt eines gesunden Kindes trotz Eileiterunterbindung.
- 8 Ob 69/21m: Ungewollte Schwangerschaft und Geburt eines gesunden Kindes aufgrund des Bruchs einer eingesetzten Spirale. Eine Kurzzusammenfassung dieser Entscheidung finden Sie unter diesem Link.
Hingegen wurden in den Fällen der Geburt eines behinderten Kindes („wrongful birth“) die Ansprüche der Kläger gegen die Ärzt:innen bejaht.
Beispiele dafür sind:
- 1 Ob 91/99k: Zuspruch des durch die Behinderung verursachten Mehraufwands.
- 5 Ob 165/05h: Zuspruch des vollen Unterhalts.
Der Senat hat sich, nach Überprüfung der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung und unter Bedachtnahme auf die von der Lehre vorgetragenen Argumente, dazu veranlasst gesehen, die Rechtsprechung, dass es sich bei „wrongful birth“ und „wrongful conception“ und zwei unterschiedlich zu beurteilende Fallgruppen handle, aufzugeben. Aus schadenersatzrechtlicher Sicht sind beide Sachverhalte im Ansatz notwendigerweise gleich zu behandeln. Das österreichische Recht geht von einem weiten Schadensbegriff aus, demzufolge auch der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden darstellt (so schon 5 Ob 148/07m [4.2.1.] mzN).
Unzweifelhaft ist, dass die Frage des Schadenersatzes im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes neben rein rechtlichen, vor allem auch ethische und moralische Fragen aufwirft. Eine sonderrechtliche Lösung dieses gesellschaftspolitisch besetzten Rechtsbereiches, vor allem hinsichtlich der zu lösenden Rechtsfragen, hat der Gesetzgeber bisher nicht durchgeführt.
Der verstärkte Senat beschließt daher zusammengefasst folgende Rechtssätze:
- Sowohl bei einem medizinischen Eingriff, der die Empfängnisverhütung bezweckt (zB Vasektomie oder Eileiterunterbindung), als auch bei der Pränataldiagnostik, sind die finanziellen Interessen der Mutter (Eltern) an der Verhinderung der Empfängnis bzw. – bei Vorliegen der embryopathischen Indikation – der Geburt eines (weiteren) Kindes vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrages umfasst.
- Wäre das Kind bei fachgerechtem Vorgehen bzw. ordnungsgemäßer Aufklärung der Mutter (der Eltern) nicht empfangen bzw. geboren worden, haftet der Arzt (unabhängig von einer allfälligen Behinderung des Kindes) insbesondere für den von den Eltern für das Kind zu tragenden Unterhaltsaufwand.
- Bei den Ultraschalluntersuchungen, insbesondere jener, die gerade den Zweck hatte, in einem frühen Stadium der Schwangerschaft unter anderem zu überprüfen, ob alle Extremitäten vorhanden sind, ging der Beklagte nicht lege artis vor und erkannte daher das Fehlen des linken Armes des Fötus nicht. Dadurch wurden den Klägern die Möglichkeit genommen, noch innerhalb der Frist des § 97 Abs 1 Z 1 StGB einen nach § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.
Haftung für alle Vermögensnachteile aufgrund Untersuchungsfehler
Der OGH hat daher im Ergebnis die Entscheidungen der Unterinstanzen und damit letztendlich die Haftung für sämtliche Vermögensschäden und –nachteile sowie für den gesamten Unterhalt bestätigt.
Mag. Barbara Hauer, LL.M. MBA