Ärztliches Gutachten ohne Untersuchung
Disziplinarstrafe ausgesprochen
Der Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer, Disziplinarkommission für Wien sprach einen Arzt für Allgemeinmedizin des Disziplinarvergehens für schuldig, weil er einem Kind bescheinigt hätte, dass dieses eine SARS-CoV-2-Impfung nicht ohne Gefahr für Leben und Gesundheit erhalten könne. Die Disziplinarkommission sah darin eine Verletzung der ärztlichen Berufspflichten, weil der Arzt seine Entscheidung entgegen den wissenschaftlichen Erkenntnissen damit begründet habe, dass „eine Nutzen-Risiko-Abwägung der Impfung praktisch für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen negativ sei, Kinder, die im Allgemeinen ein vernachlässigbares Risiko durch eine Covid-19-Erkrankung hätten, durch die Impfung lebenslangen schweren Schäden ausgesetzt seien und die Impfung die Immunität der Geimpften negativ beeinflusse“. Über den Arzt wurde eine auf drei Jahre bedingte Geldstrafe von Euro 1.000,-- ausgesprochen und der Mediziner wurde verpflichtet, die mit Euro 1.000,-- bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens zu bezahlen.
Verwaltungsgericht Wien hebt Disziplinarerkenntnis auf
Das Verwaltungsgericht Wien gab der Beschwerde des betroffenen Arztes Folge, hob das angefochtene Erkenntnis auf und sprach den Arzt von der Disziplinarstrafe frei. Auch die Verfahrenskosten hatte der Arzt daher nicht zu tragen und die Revision wurde für nicht zulässig erklärt. Zentrales Argument war, dass es sich „bei der medizinisch-wissenschaftlichen Stellungnahme um ein Werturteil des Arztes handle, das von der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst sei“. Die vom Arzt verfasste Stellungnahme entspräche keinem ärztlichen Zeugnis gemäß § 55 ÄrzteG 1998, sondern handle es sich um ein ärztliches Gutachten gemäß § 2 Abs 3 ÄrzteG 1998, wofür keine ärztliche Untersuchung gesetzlich gefordert sei.
Der Arzt habe daher auch keine Berufspflichtverletzung begangen, so das Verwaltungsgericht.
Revision an VwGH zulässig und auch berechtigt
Gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien erhob der Disziplinaranwalt der Österreichischen Ärztekammer Revision. Die Zulässigkeit dieser ergibt sich aus der Rechtsprechung, wonach auch ärztliche Gutachten unter § 55 ÄrzteG fallen. Der VwGH (Ra 2022/09/0122) erachtete die Revision zusammengefasst aus folgenden Gründen auch für berechtigt:
Laut Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses ohne Untersuchung im Ausnahmefall möglich, wenn eine nachvollziehbare Begründung dafür vorliegt. Für den VwGH war es geradezu „unzweifelhaft“, dass das verfahrensgegenständliche Gutachten mit dem Ziel der Risikobeurteilung einer konkreten Impfung für eine individuelle Person, von § 55 ÄrzteG 1998 umfasst sei und schon daraus resultiere, dass das ärztliche Gutachten trotz begründungslosen Unterlassens einer ärztlichen Untersuchung eine Berufspflichtverletzung darstelle, die standesrechtlich geahndet werden könne.
Auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichtes, dass die ärztliche Stellungnahme als Werturteil der Meinungsäußerungsfreiheit unterliege und vom Grundsatz der Wissenschaftsfreiheit getragen sei, waren für den VwGH nicht tragfähig: Vielmehr hatte das ärztliche Gutachten zum Schutz der Patientin vor Schäden an ihrer Gesundheit der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung sowie den fachspezifischen Qualitätsstandards zu entsprechen. Dies umso mehr, als die ausgestellte Bescheinigung ein Kind betraf, so der VwGH.
Das angefochtene Erkenntnis des Verwaltungsgerichts war daher bereits aus diesen Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Mag. Barbara Hauer, LL.M., MBA